Hin und her, Tag für Tag - die Evolution des Pendelns

Jin Chei, Historisches Archiv
Der Grossteil der Schweizer Arbeitnehmer:innen pendelt, begibt sich also morgens auf den Weg zur Arbeit und am Abend wieder zurück. Der Blogeintrag wirft einen Blick auf die Entwicklung dieses Phänomens.
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Abb. 1: Geschäftsreisender arbeitet im Abteilwagen zweiter Klasse, 1936, SBB Historic SV_069_07

Laut der Statistik zur Pendlermobilität waren im Jahr 2022 acht von zehn Erwerbstätigen in der Schweiz Pendler:innen. Jeden Tag begeben sich also Millionen von Menschen auf den Weg zur Arbeit und wieder zurück, und sind dabei durchschnittlich etwa eine Stunde unterwegs. Ungefähr die Hälfte der Pendelnden fahren dabei mit dem Auto und etwa 30 Prozent nutzen den öffentlichen Verkehr wie Bahn oder Bus.

Wie aber ist das Pendeln entstanden? Welche Faktoren führten zum Typus der heutigen Arbeitspendler:innen? Um die Entwicklung besser zu verstehen, müssen wir eine kleine Zeitreise unternehmen.

Mitte des 19. Jahrhunderts war der Verkehr im Vergleich kleinräumig. Der Grossteil der Erwerbstätigen war in der Urproduktion tätig und arbeitete in der Nähe des Wohnhauses. Eine Fahrt mit der Eisenbahn war - dort wo die Bahn überhaupt schon existierte - eine Erlebnisreise und nicht ein alltägliches Verkehrsmittel. Billette für Strecken, die heute regelmässig gependelt werden, hätten einen einfachen Arbeiter mehr gekostet, als er überhaupt an einem Tag verdienen konnte.

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Abb. 2: Karte «Historische Entwicklung des Netzes 1855» aus Graphisch-statistischer Atlas der Schweizerischen Normalbahnen, 1883, SBB Historic Ef 45
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Abb. 3: Karte «Historische Entwicklung des Netzes 1880» aus Graphisch-statistischer Atlas der Schweizerischen Normalbahnen, 1883, SBB Historic Ef 45

Verkehrswerbung richtete sich an wohlhabende Touristen, mit der Eisenbahn wurde gereist und nicht gependelt. Die Eisenbahnlinien wuchsen aber schnell und folgten dabei touristischen, militärischen, und wirtschaftlichen Bedürfnissen. Mit dem Wandel der Gesellschaft von Landwirtschaft hin zu Industrie und Dienstleistung verschoben und verdichteten sich die wirtschaftlichen Zentren in die Städte.

Die gesamte Mobilitätsinfrastruktur musste ausgebaut werden, um Arbeitnehmende zu den immer weiter entfernten Arbeitsorten wie Fabriken zu befördern.

Aber auch Schüler:innen und Studierende waren auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen. Dies zeigt sich deutlich in den Fahrplanbegehren, die schriftlich an die Jura-Simplon-Bahn gerichtet wurden.

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Abb. 4: Schreiben der Commission des écoles de Morges an die Direktion der Jura-Simplon-Bahn, 12.01.1896 SBB Historic KDI_REG_SBB61_0070

Dort finden sich unter anderem Petitionen von Mitarbeitenden der Uhrenindustrie, die um einen früheren Zug bitten, um pünktlich die in der Sommersaison früher öffnende Fabrik zu erreichen, aber auch eine Sammlung von Schreiben diverser Schulen und Universitäten aus der Nähe von Lausanne. So unterstützt 1896 etwa die Commission des écoles de Morges das Anliegen der lokalen Studierenden, einen früheren Zug nach Lausanne zu erhalten. Die Ankunftszeit des momentanen Zuges verhindere den Unterrichtsbeginn um sieben Uhr, da einige ihrer Schüler aus unter anderem St-Prex oder Etoy kommen würden. Es könne deswegen erst eine halbe Stunde später begonnen werden – «ce qui bouleverse tous nos programmes et dérange tout le mond».

Um dem wachsenden Mobilitätsbedürfnis gerecht zu werden, wurden spezielle Tarife und Angebote eingeführt. So heisst es etwa im Geschäftsbericht der Schweizerischen Centralbahn für das Jahr 1890: «Im Personenverkehr haben wir auf Anregung verschiedener Firmen in Olten die sogenannten Arbeiterabonnemente eingeführt, um [...] Arbeitern der Oltener Fabriken zu ermöglichen, den Weg zu und von der Arbeit per Bahn zu machen.»

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Abb. 5: Titelbild der Broschüre «Pendler-Bahn. Per Bahn zur Arbeit und zur Schule», ca. 1982, SBB Historic VARIA_043
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Abb. 6: Innenansicht des Drittklasswagens C4ü 8605 der Jura-Simplon-Bahn (Zuschnitt), 1904, SBB Historic F_129_00007_020

Diese Arbeiterabonnements hatten diverse Einschränkungen, so durfte eine gewisse Lohngrenze nicht überschritten werden, die Abonnements waren nur an Werktagen sowie zu bestimmten Zeiten gültig, und schliesslich wurde dritter Klasse gependelt.

Die Dampfzüge von damals waren aber noch keine richtigen Pendelzüge.  

Diese entstanden erst mit der Elektrifizierung des Netzes und durch die Beschaffung von neuem Rollmaterial in den 1920ern, denn ein Pendelzug benötigt eine elektrische Vielfachsteuerung. Letztere ermöglicht es dem Zug, einfach die Fahrtrichtung zu ändern, ohne dass die Lokomotive oder der Triebwagen ans andere Ende des Zugs gebracht werden muss.

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Abb. 7: Von Ce 4/6 gestossener Pendelzug mit Steuerwagen, ca. 1928, Fotograf unbekannt, SBB Historic FRE_WELTI_2005/003_061

Dazu hat ein Pendelzug an jedem Ende einen Führerstand und kann auch von einem antriebslosen Steuerwagen aus bedient werden. Das erste «Pendeltriebfahrzeug» der SBB war somit im Jahr 1923 die Ce 4/6. Dieser Triebwagen konnte gemeinsam mit einem anderen Triebwagen, einem Gepäcktriebwagen oder einem Steuerwagen eingesetzt werden, oder aber auch als Alleinfahrer eingesetzt werden.

Zur selben Zeit kam aber auch ein Konkurrent für die Bahn auf – das Automobil. Im Güter- wie im Personentransport musste sich die Eisenbahn gegen das neue Gefährt behaupten. Auch beim Pendelverkehr stieg der Anteil des sogenannten motorisierten Individualverkehrs stark an. Heute nutzt ca. die Hälfte der Pendelnden das Auto als Hauptverkehrsmittel, der Anteil der Eisenbahn liegt bei 16%.

Als Anspielung auf die Benzinteuerung aufgrund der Ölkrise publizierte die SBB 1978 ein Plakat von Herbert Leupin, auf welchem die SBB als «SUPER»-Alternative zum Auto und den Benzinpreisen verstanden werden kann. Bald darauf folgte aber noch ein anderes Argument – das Waldsterben.

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Abb. 8: Plakat «SBB SUPER», 1978, Herbert Leupin (1916-1999), SBB Historic P_A01_0151de
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Abb. 9: Plakat «Du fährst klimafreundlich mit 90% Wasserkraft.», 2019, SBB AG, SBB Historic P_A01_1681de

Mitte der Achtzigerjahre wurden Gegenmassnahmen gefordert, darunter auch eine Senkung der Tarife des öffentlichen Verkehrs. Unter anderem wurde das Halbtax von 360 auf 100 Franken vergünstigt. Nach der Einführung des neuen Tarifs 1987 hob dies die Anzahl der Abonnemente von 660'000 auf über zwei Millionen – «Lob dem Waldsterben», wie es in einem Gastkommentar des ehemaligen SBB-CEOs Benedikt Weibel heisst.

Stand bei der frühen Werbung für die elektrische Eisenbahn noch der Stolz auf den technischen Fortschritt und die damit verbundene Unabhängigkeit im Vordergrund, so wurde später ein Fokus auf die Umweltfreundlichkeit gelegt. Ebenfalls findet sich in der Werbung etwas, das vielleicht «Pendelästhetik» genannt werden kann:

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Abb. 10: Werbung für das Generalabonnement, ca. 1992, SBB AG, SBB Historic P_A01_1681de
Gewünscht: «Im Zeitalter der Lap-tops einfach nur die Möglichkeit, einen Tisch zu haben und den eigenen Portable anzuschliessen, ohne gross bezahlen zu müssen»

Reisen mit der Bahn wird nicht mehr nur als grosses Erlebnis vermarktet, sondern auch zu einem täglichen Ritual stilisiert. Die Zeit, die mit dem Pendeln verbracht wird, soll auch genossen oder genutzt werden.

1988 stellt die SBB deshalb in Zusammenarbeit mit der Firma Waser einen Bürowagen vor, in welchem unter anderem Computer genutzt und Telefonate getätigt werden konnten. Im Markttest des Wagens heisst es «[es lässt sich ein Bedürfnis ableiten], sich zurückziehen und ungestört ausbreiten zu können»

- diesem Bedürfnis wurde mit der Einführung der Ruhewagen auf Fahrplanwechsel Mai 1989 Rechnung getragen - und dass eine wachsende Zahl von Geschäftsreisenden über einen eigenen Laptop verfüge. Gewünscht: «Im Zeitalter der Lap-tops einfach nur die Möglichkeit, einen Tisch zu haben und den eigenen Portable anzuschliessen, ohne gross bezahlen zu müssen».

Damit sind wir schon sehr nahe an der heutigen Pendlerkultur!

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Abb. 11: Journalisten im Bürowagen, 10.1988, Fotograf Alfred Gfeller, SBB Historic R_7509_16

Auch in den Zeiten von Homeoffice sind noch die meisten Arbeitnehmenden Pendler und machen sich Tag für Tag auf den Weg zur Arbeit. Auf die Arbeitswelt, die dies erfordert, haben wir nur wenig Einfluss – wohl aber darauf, wie wir uns bewegen, und wie wir unsere Pendelzeit gestalten.

Und nun mal ehrlich, wo sonst lässt sich auf dem Arbeitsweg so schön ein Nickerchen halten wie in der Bahn?

Dieser Blogeintrag wurde begleitend zur Führung «Die Evolution des Pendelns» verfasst.

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Abb. 12: Plakat «Gute Idee SBB», 1963, Mark Zeugin (1930-2003), Fotograf Achille B. Wieder (1922-2010), SBB Historic P_A01_0074de

Bilder zum Blog

Abb. 1: Geschäftsreisender arbeitet im Abteilwagen zweiter Klasse, 1936, Fotodienst SBB, S/W-Negativ, SBB Historic SV_069_07

Abb. 2: Karte «Historische Entwicklung des Netzes 1855» aus Graphisch-statistischer Atlas der Schweizerischen Normalbahnen, 1883, erstellt im Auftrage und unter Mitwirkung der Conferenz schweizerischer Eisenbahnverwaltungen von der Direction der schweizerischen Nordostbahn für die Schweizerische Landes-Ausstellung in Zürich 1883, SBB Historic Ef 45

Abb. 3: Karte «Historische Entwicklung des Netzes 1880» aus
Graphisch-statistischer Atlas der Schweizerischen Normalbahnen, 1883, erstellt im Auftrage und unter Mitwirkung der Conferenz schweizerischer Eisenbahnverwaltungen von der Direction der schweizerischen Nordostbahn für die Schweizerische Landes-Ausstellung in Zürich 1883, SBB Historic Ef 45

Abb. 4: Schreiben der Commission des écoles de Morges an die Direktion der Jura-Simplon-Bahn, 12.01.1896 SBB Historic KDI_REG_SBB61_0070

Abb. 5: Titelbild der Broschüre «Pendler-Bahn. Per Bahn zur Arbeit und zur Schule», ca. 1982, Schweizerische Transportunternehmungen, SBB Historic VARIA_043

Abb. 6: Innenansicht des Drittklasswagens C4ü 8605 der Jura-Simplon-Bahn (Zuschnitt), 1904, Fotograf unbekannt, Negativ, SBB Historic F_129_00007_020

Abb. 7: Von Ce 4/6 gestossener Pendelzug mit Steuerwagen, ca. 1928, Fotograf unbekannt, SBB Historic FRE_WELTI_2005/003_061

Abb. 8: Plakat «SBB SUPER», 1978, Herbert Leupin (1916-1999), Siebdruck auf Papier, F4 (90.5 x 128 cm) Weltformat, SBB Historic P_A01_0151de

Abb. 9: Plakat «Du fährst klimafreundlich mit 90% Wasserkraft.», 2019, SBB AG Marketing-Kommunikation, Digitaldruck auf Papier, F200 (116.5 x 170 cm) Cityformat, SBB Historic P_A01_1681de

Abb. 10: Werbung für das Generalabonnement, aus Broschüre «Vielleicht möchten einige Leute ganz gerne wissen, was wir uns bei unserer Werbung gedacht haben?, ca. 1992, SBB Werbedienst, Fotografin Elfie Semotan (1914-), SBB Historic SBB 12.904

Abb. 11: Journalisten im Bürowagen, 10.1988, Fotograf Alfred Gfeller, S/W-Negativ auf Zelluloseacetat, 24 x 36mm, SBB Historic R_7509_16

Abb. 12: Plakat «Gute Idee SBB», 1963, Mark Zeugin (1930-2003), Fotograf Achille B. Wieder (1922-2010), Kombinationsdruck auf Papier, F4 (90.5 x 128 cm) Weltformat, SBB Historic P_A01_0074de

Abb. 13: Schlafender Geschäftsreisender wird von Kondukteur geweckt, 1936, Fotodienst SBB, S/W-Negativ, SBB Historic SV_069_04

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Abb. 13: Schlafender Geschäftsreisender wird von Kondukteur geweckt, 1936, Fotodienst SBB, S/W-Negativ, SBB Historic SV_069_04

Quellen

Atlas des räumlichen Wandels der Schweiz, 2007, Martin Schuler et al., SBB Historic 1.7342

Automobil. Eintrag im Historischen Lexikon der Schweiz, 2015, Rolf Gisler-Jauch. https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/013901/2015-01-21/ (Zugriff am 28.03.2024)

Historischer Strukturatlas der Schweiz, 2001, Bruno Fritzsche et al., SBB Historic 1.7233

Lob dem Waldsterben – ein Gastkommentar von Ex-SBB-CEO Benedikt Weibel. https://www.aargauerzeitung.ch/meinung/kommentare-aaz/lob-dem-waldsterben-ein-gastkommentar-von-ex-sbb-ceo-benedikt-weibel-ld.1361281 (Zugriff am 28.03.2024)

Markttest Bürowagen, 1989, Marketing-Service SBB, SBB Historic GD_PV_2005/002_068_03

Mobilität im Alltag in der Schweiz seit dem 19. Jahrhundert, Unterwegs sein können, wollen und müssen, 2022, Ueli Haefeli, SBB Historic 1.8636

Neununddreissigster Bericht an die ordentliche Generalversammlung der Actionäre, Geschäftsjahr 1890, 1891, Schweizerische Centralbahn, SBB Historic 8.252:1890
Pendlermobilität, Bundesamt für Statistik. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/mobilitaet-verkehr/personenverkehr/pendlermobilitaet.html (Zugriff am 26.03.2024)

Umweltbericht 1999, 2000, SBB AG BahnUmwelt-Center, Peter Hübner und Helmut Kuppelwieser, SBB Historic D_161_06